Religionswissenschaft und Archäologie

Bei vielen steinzeitlichen Ausgrabungen werden Anlagen frei gelegt, die wir als religiöse Kultstätten deuten können – und dies nicht zuletzt deshalb, weil hier Menschen das für sie "Heilige" und Ehrfurcht gebietende oftmals auf sorgfältigste Weise dauerhaft aus Stein errichtet haben. Häufig findet sich in der Bauweise, der Ikonographie oder in der naturräumlichen Ausrichtung dieser Heiligtümer eine uns unverständliche und zugleich geheimnisvolle Symbolik, so wie es beispielsweise bei dem 12.000 Jahre alten Heiligtum von Göbekli Tepe (Südostanatolien) mit seinen gewaltigen Steinstelen der Fall ist.

Im Neolithikum, als die einstigen Jäger-Gesellschaften dazu übergehen von den Früchten der Erde zu leben, gewinnt der vegetative Lebensrhythmus eine existenzielle Bedeutung für die Menschen. In dieser Zeit entstehen zahlreiche heilige Orte und Anlagen, die der neuen frühbäuerlichen Lebenserfahrung von der zyklischen Ordnung allen Lebens Rechnung tragen: Am Ende des Sommers sinkt das Leben in den Tod und aus dem Tod kommt es im Frühjahr wieder hervor. Der Tod wird zum Schöpfer von Leben, das nach einem Durchgang durch das Nicht-Sein immer wiederkehrt. Diese oft mächtigen und gewaltigen Plätze – man denke an die etwa 8.000 Jahre alten megalithischen Anlagen in der Bretagne – stehen mit anderen Worten in einem religiösen Kontext. Die neolithischen Bauern errichteten im Zentrum ihres Lebensraumes Kultstätten, um in ritueller Verantwortung mitzuwirken am geheimnisvollen Schöpfungsgeschehen und der zyklischen Wiederkehr des Lebens.

Im Allgemeinen aber werden diese megalithischen Steinsetzungen als „Grabanlagen“ gedeutet. Doch auf welches Welt- bzw. Menschenbild gründen sich denn eigentlich diese aufwändigen „Bestattungsplätze“? Und weshalb mussten Menschen überhaupt in derart großen Steinsetzungen bestattet werden? Hat das nicht etwas mit den religiösen Überzeugungen und mit dem Verständnis vom Dasein zu tun? Warum werden bei-spielsweise im Vorderen Orient große Tempelanlagen auf trockenen, kaum zugänglichen Bergen gebaut? Und weshalb errichteten die Menschen auf den entlegenen und lebensfeindlichen Orkney-Inseln schon 4.000 v. Chr. unzählige gekuppelte Cairns in der unfruchtbaren Heide? Wieso zeigen Felsbilder am Polarkreis und in Südschweden die gleichen Symbolzeichen von Schiffen wie sie in den trockenen Wadis der Nilzuflüsse zu finden sind?

Alle diese Phänomene stehen natürlich in einem religiösen Kontext. Und zu allen diesen Beispiel-Fragen liefert die prähistorische Religionswissenschaft aufschlussreiche Interpretationsansätze, weil sie die allgemeinen Strukturen schriftloser Naturreligionen erforscht, die sich ganz wesentlich von den uns vertrauten monotheistischen Religionen unterscheiden. Auf der Grundlage des „archäologischen Materials“ (Stichwort „materielle Überreste“) gelangt sie zu verblüffenden neuen Einsichten in die religiöse Vorstellungswelt der Frühzeit.

Ein weiterer Zugang zu den prähistorischen Kulturen leitet sich aus den lebensweltlichen und geographischen Bedingungen ab, d.h. aus der konkreten Lebenssituation der frühen Bauern und ihrer existenziellen Abhängigkeit von der Erde mit ihrem jahreszeitlichen Lebensrhythmus. Eine andere unverzichtbare Quelle bei der Erforschung alter Naturreligionen ist natürlich die Ikonographie mit ihrer reichhaltigen Bilderwelt. Deren Symbolik ist ebenso aufschlussreich wie die der Mythen, die zwar mit der Zeit verfremdet wurden, aber immer noch Grundaussagen über das Schöpferische und die Dynamik der Entstehung beinhalten. Hilfreich sind außerdem ethnologische Berichte von Opfertraditionen, magischen Praktiken, Riten und Tabuvorschriften heute noch vergleichbar lebender Ethnien. Denn alle Naturreligionen kennen nur ewige Wiederholung und Wiederkehr. Für sie ist das Schöpferische dem Leben innewohnend; es entfaltet sich zyklisch aus sich selbst heraus immer wieder neu, sinkt hinab in den Tod, aus dem es sich wieder zu neuer Gestalt bringt.

Heute beteiligen sich zahlreiche Einzeldisziplinen an der Ausdeutung archäologischer Befunde: Sie äußern sich von ihren jeweiligen Standorten aus u.a. zu den Lebens- und Essensgewohnheiten, sie können ein Gesundheits- und Genprofil der längst verstorbenen Baumeister erstellen, können das Jagdwild auszählen und umfangreiche natur-wissenschaftlich fundierte Materialanalysen einbringen. Der Deutungsbeitrag der Religionswissenschaften im Konzert dieser Einzeldisziplinen ist bis dato kaum ins Gewicht gefallen. Mehr noch: Weil schriftliche Quellen fehlen, stand immer wieder der Spekulationsvorwurf im Raum! Dabei bietet ein neuartiger Schulterschluss in der Zusammenarbeit von Archäologen und Religionswissenschaftlern mehr Chancen als Risiken. Erst wenn die religiöse Vorstellungswelt der Frühzeit mit in die „interdisziplinäre Waagschale“ geworfen wird, können wir den tieferen Sinn der megalithischen Steinsetzungen erfassen.