Zur Zeit beschäftige ich mich besonders intensiv mit den religiösen Vorstellungen der alten Jägerkulturen. Ethnologische Berichte aus dem 19. und 20. Jahrhundert haben hierzu umfangreiches Datenmaterial zusammengetragen, das Einblicke in ihre spirituelle Welt erlaubt. In diesem Zusammenhang reiste ich im Frühsommer 2010 nach Japan, um Kontakt zu den letzten Ainu-Jägern in Hokkaido aufzunehmen. Dabei konnte ich mit großem Erstaunen feststellen, dass ihr geistiges Vermächtnis noch im Shinto des modernen Japans nachlebt.

Meine Recherchen und Reiseeindrücke habe ich zu einem bislang noch unveröffentlichten längeren Aufsatz "Japan und seine Kamis" verarbeitet, den ich hier in Kurzform vorstellen möchte.


 

Japan und seine Kamis

In meinem jüngstem Projekt beschäftigte ich mich mit der religiösen Welt der alten Ainu-Jäger Japans. Vor dem Hintergrund der furchtbaren Atomkatastrophe von Fukushima hat dieses Thema auch für mich eine große Brisanz bekommen, denn bei meiner religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit der alten Jägerkultur in Hokkaido ist mir schon bald aufgefallen, dass das moderne Japan bis heute von der erstaunlichen Vorstellungswelt der Ainu-Jäger geprägt wird. Die religiösen Muster des Shinto lassen eine klare geistige Verwandtschaft mit den Vorstellungen der alten Jägerkultur erkennen, ein Zusammenhang, der den Shinto-Gelehrten Japans allerdings kaum bewusst ist.

Tatsächlich lieferten uns ja die westlichen Medien während des verheerenden Tsunamis vom März 2011 verblüffend andersartige Katastrophen-Bilder aus Japan. Wie aber war es möglich, dass die Japaner so ergeben und rücksichtsvoll miteinander umgingen? Waren sie nicht wütend, verzweifelt, traumatisiert? Auch sie suchten doch Kinder, Eltern und Angehörige. Auch sie lebten zu Tausenden in Notunterkünften, hatten ihre gesamte Existenz verloren. Und doch standen sie ruhig und friedfertig nach Wasser, Essen oder Decken an. Sie verneigten sich respektvoll, um ja niemand anderen mit ihrem Kummer zu belästigen. Bescheiden begnügten sie sich mit einer Behausung aus Pappkartons und hielten sich selbst jetzt noch an die Prinzipien von Ordnung und Sauberkeit.

Für westliche Beobachter schien trotz der gewaltigen Zerstörung ganz Japan eine große Familie zu sein. Es kam weder zu Plünderungen noch zu anderen nennenswerten kriminellen oder gewalttätigen Handlungen. Japanische Regierungsbeamte und verantwortliche Manager verneigten sich in Respekt vor den Kami, die sich in dieser großen Natur-Katastrophe manifestierten, was für die westlichen Medien so irritierend war, dass man kritische Stimmen hören konnte, die das Verhalten der Japaner regelrecht als „empörend“ bezeichneten.

Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel zum Verständnis der japanischen Eigenarten in den Kami. Sie sind wie die Kamui der Ureinwohner unsichtbare Naturwesen, die sich das Land mit den Menschen teilen und sich in den schöpferischen Kräften des Daseins offenbaren. Schon immer erklärte man sich in Japan die Dynamik des Daseins mit Kamui, die sich aus ihrer Parallelwelt kommend in der materiellen Welt der Menschen in Tieren, Pflanzen, Wäldern, Bergen zur Gestalt brachten. Belege für diese Vorstellungen fanden japanische Archäologen in 15.000 Jahre alten Ausgrabungsplätzen.

Die Kami sind keine Gottheiten, die über den Menschen stehen, keine Schöpferwesen, die Dienen und Gehorchen von den Menschen erwarten. Sie sind etwas ungeheuer Schöpferisches, das sich im Dasein manifestiert. Sie sind nicht auf den Menschen bezogen, geben keine Ordnung vor. Die Menschen leben parallel und sind für sich selbst verantwortlich. Das bis heute spürbare bescheidene, rücksichtsvolle und unaufdringliche Wesen der Japaner entspringt einer tiefen Achtung vor den allgegenwärtigen Kami.

Im Rahmen meiner religionswissenschaftlichen Forschungen zu prähistorischen Religionen möchte ich das eigenwillige Weltbild der Ainu-Jäger herausarbeiten, um eine Ahnung von der religiösen Tiefe, aber auch von der Kreativität eines Jäger-Universums zu geben. Denn es ist erstaunlich, mit welcher Sensibilität und inneren Logik sich bereits die ältesten Jäger ihr Dasein und die Phänomene von Tod und Wiederkehr erklärten, um sich in ihrer Lebenswelt zu orientieren und sich kommunikativ in ihr zu verorten.