Die Felsbilder von Alta in Nord-Norwegen

Im Januar 2012 bin ich nach Nord-Norwegen gereist, um in Tromsø zum ersten Mal die Polarnacht mitzuerleben. Wie ist das, wenn die Sonne nicht mehr aufgeht? Mit dem öffentlichen Bus bin ich dann weitere sechs Stunden durch die Dunkelheit nach Alta gefahren, wo die Felsbilder, die ich noch zwei Jahre zuvor im wunderbaren Licht der Mitternachtssonne gesehen hatte, nun unter einer dicken Schneedecke "schliefen". Nur für zwei Stunden war es hell. Um 12 Uhr erblickte ich im Süden einen roten Streifen zarter Morgendämmerung. Ohne dass es die Sonne schaffte, über den Horizont zu steigen, wurde dieser zum Abendrot, dem bald schon wieder die endlos lange Nacht folgte.

Anregende Gespräche an der Universität Tromsø über die wohl nördlichsten Felsbilder der Welt veranlassten mich dann, den allgemeinen religiösen Hintergrund der Felsbilder in einem grundsätzlichen Text zusammenzufassen. Mit diesem Beitrag wende ich mich in erster Linie an die Adresse der Archäologen und möchte sie zu einem interdisziplinär geführten Dialog über den religiösen Kontext dieser und ähnlicher Felsbilder anregen. Wer die rätselhaften Felsbilder verstehen will, so meine These, der muss sie im Zusammenhang mit dem zyklischen Weltbild der Jäger betrachten. Denn die nomadische Lebensweise der Samen, ihre heiligen Plätze und mythischen Vorstellungen sind der Schlüssel zum Verständnis für die verschiedenen Symbole, mit denen sich vor etwa 8.000 Jahren die Jäger in Alta auf magische und rituelle Weise an der Wiederkehr des Lebens beteiligt haben.

Der religionswissenschaftliche Blickwinkel auf Felsbilder ist ein anderer als der eines Archäologen, denn der Religionswissenschaftler geht davon aus, dass es sich bei ihnen um religiöse Symbole handelt, die etwas über das mythische Weltbild ihrer Urheber zum Ausdruck bringen. Jäger und Sammler nutzten den Felsen demzufolge nicht einfach als Malgrund für Illustrationen, sondern sie traten an diesen besonderen Orten in Kontakt zu den Geistwesen ihrer Welt und fügten dort Zeichen hinzu, wo schon Generationen vor ihnen unzählige Symbolbilder in den Felsen geritzt hatten. Über Jahrtausende hinweg verloren diese heiligen Orte nichts von ihrer zentralen Bedeutung, die Menschen suchten diese Plätze immer wieder auf und hinterließen hier sichtbare Spuren.

Wo die Bilder mit Farbe gemalt wurden, wie beispielsweise in Australien fand man zwischen den Bildschichten immer wieder Lagen von weißer, die alten Bilder auslöschender Farbe. In den eiszeitlichen Höhlen Frankreichs hingegen blickt man auf ein Gewirr von Linien und übereinander gezeichnete Formen, wodurch es fast unmöglich ist, einzelne Tiere zu erkennen. Diese Beispiele belegen anschaulich, dass das Tun, der Prozess des Schaffens, im Vordergrund stand – und nicht das fertige Bild.

Die beseelte Welt der Jäger

Von den heiligen Bildern der Jäger trennen uns nicht nur Jahrtausende, sondern vor allem eine völlig andere Lebenssituation, ein anderes Verständnis von der Welt und ihren schöpferischen Kräften. Um die Welt der Jäger und damit auch die Bedeutung ihrer Felsbilder zu verstehen, reicht es aber bei weitem nicht aus, unsere heutigen Glaubensinhalte auf "primitive Wahrheiten" zu reduzieren.

Alle frühen Jägergesellschaften mussten sich in irgendeiner Weise ihr Dasein erklären, sie mussten den Lebensrhythmus der Natur, die Eigenarten von Flora und Fauna kennen, um überleben zu können. "Seit langem weiß man, dass die ersten systematischen Vorstellungen, die sich der Mensch von der Welt und von sich selber gemacht hat, religiösen Ursprungs sind", so der Religionssoziologe Durkheim (Durkheim 1981, 24). Diese Vorstellungen wurden in Mythen tradiert, die die Beziehung der Menschen zu ihrer Lebenswelt und deren unsichtbaren Wirkungskräften festlegten. Diese "systematischen Vorstellungen", d.h. die mythischen Erklärungsbilder, mit denen die Jäger ihre Welt beschrieben und erklärten, waren ihre religiösen Leitlinien und Wahrheiten. Über Jahrtausende hinweg bildeten sie das geistige Fundament ihrer Lebenswirklichkeit.

Die mythische Grundstruktur dieser Erklärungen folgt einem gänzlich anderen religiösen Muster als unsere heutigen, metaphysisch orientierten Religionen mit ihrem individuellen Heilsversprechen. In den zyklischen Naturreligionen bzw. im Weltbild der Jäger war das Schöpferische nicht außerhalb ihrer Welt, sondern deren innerste Geheimnis. Die Menschen stellten sich in eine verwandtschaftliche und totemistische Beziehungen zu ihm, indem Tiere und Bäume, Krankheit oder beißender Hunger, d.h. alle sie umgebende Lebens- und Naturphänomene, Wesenheiten waren, mit denen die Jäger in Kommuni-kation standen. Man erzählte sich lange und phantasievolle Geschichten über das jeweilige Verhalten der Geister, ihre Taten, Vorlieben und seltsamen Eigenarten; man wusste, was sie wollten und verabscheuten, was sie von den Menschen erwarteten. Mit den Geschichten gestaltete sich das So-Sein der Welt.

Mit ihren Mythen schufen sich die Jäger eine eigene Wirklichkeit. Sie fanden in ihren Geschichten originelle Erklärungen für die Phänomene des Daseins und schmückten sie mit dramatischen und unterhaltsamen Erfahrungen und Belehrungen aus. In der rituellen Wiederholung dieser Schöpfungsmythen wurden zu ihrer Wahrheit. Es sind irreale Zusammenhänge, von denen sie künden, wenn sie von Geisterkämpfen und seltsamen Transformationen zwischen Mensch und Tiergestalt, von Wandlungen und verborgenen Kräften berichten. Aber gerade darin haben Mythen Schöpfungscharakter, weil sie "Wirklichkeit" offenbaren, indem sie von dem erzählen, das zum geheimnisvollen Ursprung der Dinge führte.

Indem nun die Schöpfungsmythen zu gemeinschaftlicher ritueller "Aufführung" kommen, die Szenen gesungen, gemalt, erzählt werden, vergegenwärtigten die Jäger die ursprüngliche Schöpfungsenergie. Diese zyklische Wiederherstellung der mythischen Ursprungssituation war eine pragmatische Notwendigkeit, da sie unbedingte Voraussetzung für die Wiederkehr des Lebens war, für die Rückkehr der Jagdtiere und der Vegetation. Dabei ging es um nichts Geringeres als um den Fortbestand des Daseins überhaupt. Denn die Existenz war ständig bedroht vom Hungertod.

Ohne die menschliche Teilnahme, ohne Trommeln, Gesänge, Tänze oder Rufe würde das Jagdwild nicht zurückkehren, die Sonne in der Finsternis gefangen bleiben und die Herrschaft der Eisriesen anhalten. Es waren ganz konkrete Geister, die in Schneestürmen und Orkanen wüteten, die in wildem Kampf um die saisonale Vorherrschaft rangen, die Menschen mit nagendem Hunger bestraften, oder aber Hilfe brachten und überraschend Nahrung schickten. Diese Geister gewannen oft groteske Gestalt in den Mythen. Sie manifestierten sich in der Vorstellung der Jäger zu vorsätzlich handelnden Wesen, mit denen sie sprachen und verhandelten, kämpften und um ihr Überleben rangen. In einem schöpferischen Sinne waren es "göttliche" Wesen, denn sie konnten ihre Gestalt ändern, waren unangreifbar und doch gegenwärtig in ihrer Unsichtbarkeit.

Die schöpferische Kraft des Todes

Zu den Methoden ritueller Einflussnahme der Jäger, zur Teilnahme und Mitwirkung an den Lebensprozessen gehörte neben der Performance der Schöpfungsmythen immer auch das Ritzen oder Malen von Felsbildern. Felsbilder offenbaren eine Art "Sprache", eine heilige Kommunikation mit den Geistern. Es sind nicht etwa Abbilder von Jagdbeute, Illustration von Jagdmethoden, Festen oder sozialen Ereignissen. Die Bilder illustrieren keine Realität, sondern stehen in einem mythischen Zusammenhang, über den die Jäger in Kontakt zu ihren Geistern und Ahnen traten und an den schöpferischen Prozessen ihrer Welt teilnahmen. Die Bildsymbolik der Felskunst wurzelt in der Mythologie der Jäger. Kampf- oder Jagdszenen verbildlichen nichts Reales, sondern bringen das Ringen der Geister zum Ausdruck, sie symbolisieren mythische Ereignisse, die sich im Felsbild auf magische Weise erneuern sollten. Das Entscheidende war, Kräfte zu stimulieren, etwas zu erwecken, um es aus dem Unsichtbaren wieder zu materieller Gestalt zu bringen.

Die Samen kennen, wie viele andere Völker auch, die gestaltende Kraft des Joikens mit der Zaubertrommel. Ein magisches Singen, mit dem das zur Gestalt gebracht wurde, das sich in dem wiederholenden Gesang offenbarte. Ähnlich könnte das Punzen mit kleinen Hammerschlägen auf den Felsen gewirkt haben, aus denen die Tiere und Symbolbilder entstanden. Wichtig war dabei nicht das fertige Bild, sondern der Prozess des Entstehens oder Singens, der auf magische Weise etwas aus dem starren Stein in lebendiges Dasein brachte.

Der Zoroastrismus hat dieses Phänomen in seinen Begriffen menog und getig tradiert: Der in einem "steinernen Himmel" lokalisierte Schöpfergott Ahura Mazda erschafft nämlich seine Schöpfung zunächst in einem unsichtbaren menog-Zustand, bevor sie sich zu sichtbarer getig-Gestalt bringen kann, sich ausfaltet, reift und wieder vergeht (vgl. Mahlstedt 2004, 65f.).
Bemerkenswert und symptomatisch ist hier einerseits, dass die Zeit der Gestaltlosigkeit einen Namen trägt und sich als Schöpfungszeit darstellt. Andererseits erklärt der Mythos, dass das neue Leben im Nicht-Sein entsteht, dass es sich im Nicht-Sein bildet und dass diese geheimnisvolle Schöpfungszeit mit der Leblosigkeit des Steins gleichgesetzt wird. Wenn der viel spätere, erste monotheistische Hochgott Ahura Mazda in seinem leblosen steinernen Himmel seine Schöpfung zunächst in einem noch ungestalteten menog-Zustand bei sich behält, bevor sie sich in der getig-Welt zur Gestalt bringen kann, so war es wahrscheinlich eine ähnlich Vorstellung, die die Jäger veranlasste, mit ihrem Singen, Erzählen, Punzen das Lebendige wieder zu sichtbarer Gestalt zu bringen.

Der leblose Stein ist das Symbol für die schöpferische Kraft des Todes, für die Zeit, in der sich das Leben geistig, spirituell erschafft. Für uns ist der Stein ein Sinnbild stofflicher, harter und starrer Materie, die unserer endzeitlichen religiösen Vorstellung widerspricht. Doch ist es gerade seine Leblosigkeit, seine Ruhe und Stille, mit der in zyklischen Religionen das Schöpferische des Nicht-Seins zur Schau kommt. Das ist der zentrale Gedanke zyklischer Naturreligionen: Das Schöpferische wirkt in der immer wieder durch den Tod führenden Ordnung der Natur. Der aufgerichtete Stein ist damit Symbol des Schöpferischen. In dem Sinne sind die Felsbilder der Jäger Zeugnisse ihrer religiösen Teilnahme an den zyklischen Prozessen ihrer Lebenswelt. Sie bringen in Symbolbildern zur Schau, was in Mythen über das Wirken der verborgenen Kräfte tradiert und von den Jägern an Mitwirkung gefordert wurde.