Die megalithischen Steinriesen der Bretagne

Dann reiste ich weiter über Cean in die Bretagne, fuhr auf der neuen Schnellstraße in der Mitte der Halbinsel über Mur-de-Bretagne in den Westen, um hier auf die spärlichen Reste des einst sumpfigen Urwaldes zu stoßen, der die Bretagne, das „Land des Waldes“ (Argoat) ursprünglich überzog. Dieser Urwald wucherte auf Grund des vielen Regens und der Wärme des Golfstroms einstmals wild und ungebändigt. Vom Sturm gebrochen, von Schlingpflanzen und Dornengestrüpp gewürgt, von moorigen Sümpfen und feuchten Niederungen durchzogen, muss er in megalithischen Zeiten fast undurchdringlich gewesen sein. Noch in den 90er Jahren, so kann ich mich erinnern, duckten sich einzelne kleine Feldsteinhäuser hinter die Dünen, verkrochen sich die Fischer in den Hügeln der kargen Heide, um Schutz vor dem Wind zu finden und dem ewig bewegten Meer, dessen Wasser um fünf bis sechs Meter steigen und sinken kann, das Muschelbänke und Wasserpflanzen freilegt, Felseninseln entstehen lässt und sie wieder verschluckt.

Heute werden etwa Dreiviertel des Waldes forstwirtschaftlich genutzt, in langen Reihen stehen kerzengerade junge Pappeln oder Eschen. Die alten Knicks, die schützenden Feldränder mit ihrem Bewuchs aus Haselnuss, Holunder, Buchen- oder Eichengestrüpp, sind einer großen Flurbereinigung zum Opfer gefallen. Riesige Felder, die genauso aussehen wie überall in Europa, bestimmen heute das landschaftliche Bild der Bretagne.

Und dann stand ich auf einmal vor den gewaltigen Menhiren, die seit mehr als 7.000 Jahren den atlantischen Stürmen trotzen. In ihrer Erhabenheit und Mächtigkeit, so scheint es mir, stehen sie hier wie göttliche Persönlichkeiten und vermitteln uns etwas von dem Geist dieser rauen, einstmals unwirtlichen Landschaft am Ende der Welt. Wie nirgendwo sonst in Europa häufen sich hier im westlichen Frankreich riesige einzelne Menhire, zu (kilometer-)langen Reihen geordnete Steine, zu ungeheuren Häusern aufgetürmte Steinkolosse und Plätze mit einer kaum geordneten Anhäufung kleinerer Steine. Der älteste noch stehende Menhir „Kerloas“ befindet sich in der Nähe von Brest. Er ist über zehn Meter hoch und so riesig, dass man sich kaum vorstellen kann, wie Menschen ihn überhaupt errichten und im Boden verankern konnten. Wenn wir die religiöse Bedeutung dieser Steinsetzungen verstehen wollen, müssen wir nach der Symbolkraft des Steins in den frühen zyklischen Naturreligionen fragen.

Das Leben im Tod

Mit beginnender Sesshaftigkeit gelangten erste Ackerbautechniken aus dem Balkanraum ins atlantische Europa. Während im vorderorientalischen Raum, wo die früheste Kultivierung von Getreide belegt ist, das Leben zyklisch durch einen sommerlichen Dürretod gehen muss, bevor es mit dem ersten Regen im Herbst wiederkehrt, wird der Lebenszyklus am Atlantik von kalten, dunklen Wintern bestimmt, denen ein milder, heller Sommer folgt. Mit der Bearbeitung der Erde, dem Anbau von Nahrung in Gärten und auf Feldern, geht auch eine langsame religiöse Umorientierung einher: Die Erde wird zur Geberin des Lebens, sie ist heilig und rückt in den Mittelpunkt kultischer Aufmerksamkeit.

Im Vorderen Orient wird die Erde zur großen Mutter, die ihre Kinder ernährt. Als Magna Mater wird sie zu einer mächtigen Göttin, rituell verehrt in vielen Statuen und Idolfiguren. Sie verkörpert das zyklische Lebensprinzip der Natur und ist im Korn, in den Feldern und Früchten, in der Erde und den Scheunen gegenwärtig. Die anatolische Magna Mater („Kybele“) verkörperte sich erstaunlicher Weise in einem Stein, in einem schwarzen Meteoriten. In der Frühzeit waren diese Rituale zur Fruchtbarkeit der Erde vielfach mit konkreten Menschenopfer verknüpft. Das Leben entstand im Nicht-Sein, musste also nach menschlicher Logik im Tod gezeugt werden. Götter inkarnierten in Menschen, ließen Priester und "Könige" zu Göttern werden, die für die Fruchtbarkeit der Erde verantwortlich waren.

Im atlantischen Raum ist jedoch eine andere religiöse Entwicklung zu beobachten. Wohl gelangten die Techniken des Getreide- und Gemüseanbaues in den Westen Europas, doch die menschlichen Götter wurden nicht übernommen. Die Phänomene zyklische Neuentstehung blieben hier abstrakt und personifizierten sich nicht. Im saisonalen Lebensrhythmus der Erde offenbarte sich vielmehr die Heiligkeit Lebens, das sich gewissermaßen aus sich selbst heraus in zyklischer Ordnung zur Gestalt bringt. Auch mit der Hinwendung zur Erde bleibt die Neuentstehung des Lebens ein abstraktes Geheimnis. Das in Nordeuropa tradierte Bild des Steinernen Himmels ist das Symbol für die geheimnisvolle Gestaltungskraft des Nicht-Seins. Wohl kennt man Helden, die den Stein aufschlagen und das Leben aus seiner saisonalen Erstarrung befreien konnten. Die Wandlung im Tod zu neuem Leben wurde allerdings nicht erklärt, schon gar nicht als Gottheit personifiziert, denn die Neuschöpfung wurde von gestaltenden, unsichtbaren Kräften im Nicht-Sein bewirkt.

Diese grundsätzliche Andersartigkeit - hier vermenschlichte Götter, dort abstrakte Kräfte - ist ein entscheidender Aspekt zum Verständnis der atlantischen Megalithkultur. Sie folgt nicht dem uns vertrauten religiösen Muster einer allmächtigen, liebenden und richtenden Gottheit, die uranfänglich alles geschaffen und sich dann in ein metaphysisches Jenseits zurückgezogen hätte. Am Atlantik offenbaren Steine vielmehr die zyklische Schöpfungskraft, die allem Leben innewohnt.

Die Bretagne als schöpferische Anderswelt

Mit der Hinwendung zur Erde im Neolithikum und der Orientierung am Jahreskreislauf entwickelten sich andere Vorstellungen über die Zeit des Nicht-Seins. Im Fokus auf die Erde wurde sie zu einer unfruchtbaren Zeit, die sich in einer Gegend auf der Erde offenbarte, die kein Leben hervorbrachte. Die Anderswelt war ein Ort der Leblosigkeit. Das konnte eine steinige oder sumpfige, unzugängliche Gegend am Rande der fruchtbaren Lebenswelt sein. In Ägypten war es das Land im Westen, in dem abends die Sonne am versank, es war die Wüste, das weglose Gebirge Aratta oder das salzige Meer. Das eisige Nordland der Edda war die Anderswelt, aus der Thor den Frühling wieder zurückholte.

Noch im Neolithikum war die Anderswelt eine halb-mythische, halb-wirkliche Landschaft, die aber nicht jenseitig gedacht wurde wie im Christentum: Hier wird die Jenseitswelt bestimmt von einem Gott, zu dem wir Menschen nach seinem Tod gelangen. Die zyklischen Naturreligionen verstehen die Anderswelt als Ort und Zeit, in der die schöpferischen Kräfte zur Ruhe kommen und sich in eine unsichtbare, geistige Schöpfungsenergie, d.h. in Geister, verwandeln. Das Leben "schläft" jetzt und muss vom Menschen wieder erweckt werden. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, denn die unbedingte Mitwirkung am Schöpfungsgeschehen, hier also die Wiedererweckung des Lebens, war für die Menschen des Neolithikums der wichtigste kultische Auftrag. Er garantierte die Fruchtbarkeit der Erde und damit das (Über-)Leben.

In der Anderswelt hatte das Leben eine andere Beschaffenheit; es war zum Samen reduziert, in sich zusammengezogen, ohne Gestalt. Es war die Phase der zyklischen Leblosigkeit, in der das Leben in seiner geistigen, gestaltlosen menog-Form seine Schöpfungskraft erneuerte. Dieser immaterielle Zustand, der seine Spuren im jahreszeitlichen Rhythmus der Vegetation hinterließ, wurde für die frühen Bauern an Orten sichtbar, in denen nichts wuchs, die karg und unfruchtbar waren und eben das Gegenteil einer lebendigen, üppigen Fruchtbarkeit darstellten, wie sie kennzeichnend für die Anderswelt waren.

Über Jahrtausende hinweg hatten die Jägergesellschaften Mitteleuropas die natürlichen Höhlen Südfrankreichs aufgesucht, um in Not- und Hungerzeiten über die Felsmalereien Kontakt zu ihren Ahnen und Geistern aufzunehmen. Später, am Ende der Eiszeit liefen sie die Steinformationen der Ile-de-France mit den offenen Abris an, um durch Berührung der Steine rhythmisch die Lebenskräfte zu stimulieren. Ist bei den Menhiren und Steinsetzungen der Bretagne nicht dasselbe Muster zu erkennen?

Tatsächlich erkennen wir hier das gleiche Bemühen um die Neubelebung zyklisch ruhender Kräfte, wie es sich in den vielfach übereinander gemalten Tieren der südfranzösischen Höhlen und den unzähligen Berührungsspuren der Abris zeigt. So wie die an diesen Orten gegenwärtigen Kräfte durch Übermalen oder Berühren erneuert wurden, so aktivierte auch die erneute Errichtung eines Steines in der Bretagne die schlafenden Schöpfungsenergien. Am Rande der Welt, weit entfernt von den menschlichen Ansiedlungen in den fruchtbaren und geschützten Landstrichen Frankreichs, lag in der kargen Bretagne mit ihrer salzigen Meeresküste seit etwa 7000 v.Chr. die geheimnisvolle, neolithische Anderswelt, in der die mächtigen Wirkungskräfte der Natur in riesigen Menhiren und megalithischen Steinsetzungen Gestalt gewannen.
Jetzt geben die Menschen den Lebens- und Schöpfungskräften, wie sie lange in den natürlichen Steinformationen der Ile-de-France präsent waren, eine von ihnen gewollte Gestalt: Der Stein als Symbol des schöpferischen Nicht-Seins erhält eine bestimmte Form, wobei die frühesten Menhire in ihrer ungeheuren Größe die Mächtigkeit der unsichtbaren Kräfte symbolisieren. Angefüllt mit geheimnisvoller Schöpfungsenergie, realisierten diese Steinsetzungen die Wirkungspotenz einer unsichtbaren Welt, ohne dass sie dadurch zu Gottheiten wurden, wie das im Vorderen Orient oder in Ägypten der Fall ist.

Die ersten Menhire scheinen zunächst die Gesamtheit aller abstrakten Kräfte in sich zu bergen und zu bündeln, bevor sie sich allmählich ausdifferenzierten und sich in kleineren, weniger intensiv bearbeiteten aufrecht stehenden Steinen als unterschiedliche Kräfte zur Gestalt brachten: Das könnten beispielsweise der Regen oder das Getreide, die Erde, die Kraft der Wiederkehr, der schöpferische Tod sowie Ahnen oder Totemgeister gewesen sein, die in dichten Steinreihen eine Einheit in der Vielfalt symbolisieren.

Es gab offensichtlich geordnete, unterschiedlich lange Steinreihen, wie die Alignements von le Ménec, Kermanio oder die fünf Kilometer langen Reihen von Carnnac, daneben kleine Plätze mit einer kaum geordneten Anhäufung kleinerer Steine, wie in Monteneuf (Morbihan) oder Plesin-Trivagou (Cote du Nord). Möglich ist auch, dass um die frühen großen Menhire in späterer Zeit neue Steine zur Wiederbelebung ihrer Schöpfungskraft gelegt wurden. Denn wie alles Lebendige in rhythmischen Phasen zwischen Werden und Vergehen wechselt, so mussten auch Symbolfiguren in ihrer Kraft erneuert werden. Allerdings habe ich auf meiner Reise keinen solchen Platz gefunden, wo einer der großen Menhire von kleineren Steinen umgeben gewesen wäre. Nach 8000 Jahren grenzte es jedoch schon an ein Wunder, wenn sich ein solcher Steinkranz erhalten hätte. Denn die Steinreihen waren am leichtesten fortzuräumen; die Steine wurden anderweitig verwendet, wenn ihre spirituelle Bedeutung in Vergessenheit geraten war. Im Zuge der groß angelegten Modernisierung des Landes wurden sie vermutlich einfach beseitigt. Im Finistère hatte ich vor Jahren noch eine Steinreihe gesehen, an deren Stelle ich jetzt ein großes, umgepflügtes Feld entdeckte – nicht einmal Reste der Steine waren noch zu finden.

Man kann annehmen, dass sich verschiedene Vorstellungen in Bezug auf die Manifestation schöpferischer Kräfte realisierten und nicht etwa alle einem festen Schema folgten. So können die Steine und Steinsetzungen unterschiedliche Naturkräfte würdigen oder dasselbe Phänomen in immer wieder neuer Gestalt präsentieren. Sie könnten von verschiedenen Stämmen aufgestellt und Stammes-Ahnen manifestieren, ebenso gut aber können sie auch über Jahrhunderte von der jeweils nächsten Generationen weitergebaut worden sein. Denn die raue, karge andersweltliche Halbinsel am Rande der mitteleuropäischen Lebenswelt muss bei ihrer ungeheuren Dichte megalithischer Steinsetzungen über lange Zeit von vielen Stämmen (vermutlich aus dem heutigen Belgien, aus Holland und Deutschland) besucht worden sein, die hier alle das Zentrum ihrer Anderswelt lokalisierten und rituellen Kontakt aufnahmen mit ihren Ahnen und Schöpferwesen, mit den Geistern der Erde, vielleicht des Getreides, des Regens oder - wenn man nicht so allgemein bleiben möchte - mit den individuellen Geistern der Felder oder Dörfer, die man allesamt in der Anderswelt vermutete.

Der Stein, so konnte gezeigt werden, übernimmt in seiner Symbolik die Gestalt des Nicht-Seins. Er konnte zum Bild des Todes werden, weil er die einzige nicht von Leben erfüllte Materie ist, die der sichtbaren Welt zur Verfügung steht. Alle anderen Stoffe unterliegen dem ständigen Gestaltwandel und Stoffwechsel des Lebendigen. Der Tod manifestiert sich im Festesten, Härtesten, Starrsten und Leblosesten, was es auf der Erde gibt, weil in ihm das Nicht-Sein, das Nicht-Lebendige am klarsten zum Ausdruck kommt.